Bewegende Ausstellungseröffnung zur Verfolgung behinderter Menschen im Nationalsozialismus in Marburg

Marburg: Der Andrang zur Eröffnung der Ausstellung mit dem Titel „Verfolgung behinderter Menschen im Nationalsozialismus“ zur Nazi-„Euthanasie“ in Marburg war größer als erwartet. „Die 70 Plätze im großen Ausstellungssaal des katholischen Begegnungshauses ‚KA.RE.‘ reichten bei weitem nicht aus. Obwohl noch Stühle in den Saal hineingestellt wurden, mussten mehrere Interessierte die Ausstellungseröffnung am 22. August 2025 stehend verfolgen, was sie angesichts des berührenden Programms aber allesamt durchhielten. Die Ausstellung ‚Verfolgung behinderter Menschen im Nationalsozialismus‘ ist bis Donnerstag, 30. Oktober 2025 im Katholischen Begegnungshaus ‚Ka.Re‘ in der Biegenstraße 18 in Marburg zu sehen.“ Darauf macht Franz-Josef Hanke in seinem Beitrag über die Ausstellungseröffnung für die kobinet-nachrichten aufmerksam.

 Bewegende Ausstellungseröffnung zur Nazi-„Euthanasie“ in Marburg

Beitrag von Franz-Josef Hanke

Der Andrang zur Ausstellungseröffnung war größer als erwartet. Die 70 Plätze im großen Ausstellungssaal des katholischen Begegnungshauses „KA.RE.“ reichten bei weitem nicht aus. Obwohl noch Stühle in den Saal hineingestellt wurden, mussten mehrere Interessierte die Ausstellungseröffnung am Freitag (22. August 2025) stehend verfolgen, was sie angesichts des berührenden Programms aber allesamt durchhielten. Die Ausstellung „Verfolgung behinderter Menschen im Nationalsozialismus“ ist bis Donnerstag (30. Oktober) im Katholischen Begegnungshaus „Ka.Re“ in der Biegenstraße 18 in Marburg zu sehen. Sie ergänzt die Wanderausstellung „Die nationalsozialistischen ,Euthanasie‘-Morde“ um einen Ausstellungsteil der Arbeitsgruppe „Menschenbild Behinderter Gestern und Heute“ im „Marburger Netzwerk für Demokratie und gegen Rechtsextremismus“ über „Euthanasie“ in Marburg.

„Wir sehen, wo es endet, wenn Hass und Hetze, wenn Unmenschlichkeit und Abwertung von Menschen regieren“, warnte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies. „Wir sehen, was passiert, wenn Menschen nach ihrer ,Nützlichkeit‘ bewertet und ihre unveräußerliche Würde mit Füßen getreten wird.“ Besonders beeindruckt zeigte sich der Oberbürgermeister von der Ergänzung der Wanderausstellung durch Dokumente und Informationen zur Marburger Verfolgungsgeschichte. „Nirgends ist die Notwendigkeit von Demokratie so handgreiflich sichtbar wie hier.“

Der Initiator des Ausstellungsprojekts ging das Thema grundlegender an: „Wer bestimmt eigentlich, was normal ist und was nicht?“ Diese Frage nahm Bernd Gökeler zum Anlass für weitere Fragen an das Publikum: „Was bringt sie eigentlich zu der Erwartung, dass der Saal hier für sie bestuhlt ist? Wieso halten Sie es für selbstverständlich, das jemand – wir nennen sie Assistenten – die Stühle vorher hinstellen und hinterher wieder abräumen?“

Ihm als Rollstuhlfahrer biete der nicht bestuhlte Saal die Möglichkeit einer freien Platzwahl. er fragte das Publikum direkt, warum die Ausstattung mit Standardstühlen als selbstverständlich gelte, wohingegen er seinen Rollstuhl aufwendig beantragen müsse. Debatten über die Kosten der Behindertenhilfe rückte Gökeler mit seinen Ausführungen dahin, wo Menschen als angeblicher „Kostenfaktor“ abgewertet werden und von wo aus es nur noch ein kleiner Schritt ist bis hin zur menschenverachtenden Nazi-Ideologie.

Pfarrer Markus Blümel vom Team des „Ka.Re.“ berichtete von einer Exkursion seiner Firmlinge nach Fulda, wo er mit einer behinderten Teilnehmerin nach barrierefreien Zugängen zu Gebäuden und Gaststätten habe suchen müssen. „Das hat meinen Blick geschärft“, erklärte er. Die Katholische Kirche sieht der Pfarrer in der Pflicht, an das Beispiel des Münsteraner Bischofs Clemens August Kardinal Graf von Galen anzuknüpfen, der die sogenannte „Euthanasie“ der Nationalsozialisten 1941 mit scharfen Worten als unmenschlich gegeißelt hatte.

Den – von Mitgliedern der Arbeitsgruppe im Marburger Netzwerk für Demokratie und gegen Rechtsextremismus zusammengestellten – Ausstellungsteil über Marburg stellte der Historiker Dr. Wolfgang Form bei der Ausstellungseröffnung kurz vor: Die sogenannte „Euthanasie“ sei nicht vom Himmel gefallen, berichtete er. Auf einem Zeitstrahl seien in der Ausstellung entsprechende Entwicklungsschritte und Maßnahmen zwischen dem Jahr 1907 bis hin zum Jahr 2025 vermerkt.

Begonnen habe die systematische Verfolgung angeblich „unnützer Esser“ mit der Zwangssterilisierung behinderter Menschen 1933. Im Alten Amtsgericht an der Marburger Universitätsstraße habe das sogenannte „Erbgesundheitsgericht“ bis 1945 mindestens 164 Urteile gesprochen, die dann in der Frauenklinik und – bei Männern – in der Urologie umgesetzt wurden. Das könne damals niemandem verborgen geblieben sein, erklärte Form.

Mindestens 333 Marburgerinnen und Marburger wurden zwischen 1939 und 1945 in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet. Sie kamen aus fast allen Stadtteilen Marburgs, berichtete Form. „Jeder kannte ein Kind oder eine Tante, die weggebracht wurden“, erläuterte der Historiker. „Alle müssen davon gewusst haben.“

An die Marburger „Euthanasie“-Opfer wird mit der Installation „Steine gegen das Vergessen“ erinnert. Für jedes Opfer wird der Namenszug mit Geburtsdatum und dem Tag der Ermordung in Hadamar auf einem Backstein angebracht. Die Station ist mit Unterstützung des Lebenshilfewerks Marburg-Biedenkopf entstanden. Zudem wird an die Opfer der NS-Zwangssterilisation erinnert.

„Die Steine sind zwar alle ungefähr gleich groß, haben aber alle eine unterschiedliche Form“, erläuterte Gökeler. Er bezeichnete sie als „Lehrmal“, das nach dem Ausstellungsende am 30. Oktober auch an anderen Orten in Marburg zu sehen sein sollte.

Mit eindringlichem Gesang verhalf Latoya Reitzner den Anwesenden zwischen den Reden dreimal zum Durchatmen. Dabei bezogen sich ihre Titel wie „The Sound of Silence“ auf die Themen, die bei der Vernissage zuvor oder im Anschluss behandelt wurden. Gebärdensprachdolmetscher begleiteten diese Veranstaltung ebenso wie Texte in Leichter Sprache und Audioguides die Ausstellung.

Um junge Menschen an das schwierige Thema heranzuführen, hatten die Veranstaltenden Freiwillige für „Peer-Rundgänge“ gesucht. Fünf junge Leute waren aus diesem Grund zur Ausstellungseröffnung gekommen und wurden dort mit großem Applaus bedacht. Weitere Freiwillige werden noch gesucht. Alle wichtigen Informationen zu dem Projekt finden Interessierte online auf http://www.marburgmachtmit.de/eugenik