Aufklärung über Strategie der AfD tut auch in der Behindertenpolitik not

Kassel / Berlin: Mandy Müller hat sich in ihrer im Sommer 2024 eingereichten Bachelorarbeit intensiv mit den behindertenpolitischen Positionierungen der AfD beschäftigt. Sie tritt neben dem Angebot von Empowerment-Schulungen für den Umgang mit Argumenten und Aktivitäten der AfD dafür ein, dass auch in den Reihen der Behindertenorganisationen verstärkt Aufklärung über die Positionen und Strategien der AfD in Sachen Behindertenpolitik betrieben werden muss. Max Prigge von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) führte folgendes Interview mit Mandy Müller aus Kassel für die kobinet-nachrichten.

Max Prigge: Vielen Dank für Ihre Zeit. Sie haben eine Bachelorarbeit über die Behindertenpolitik der AfD geschrieben. Was war Ihre Motivation, dieses nicht gerade leichte Thema für das eigene Wohlbefinden auszuwählen?

Mandy Müller: Das eigene Wohlbefinden wäre für mich als Mensch mit Behinderung definitiv auch gefährdet, wenn die AfD mit ihren Positionen durchkommt – und sei es auch nur dadurch, dass sie den gesellschaftlichen Diskurs so weit verschiebt, dass Menschenfeindlichkeit zur Norm wird. Dass die AfD menschenfeindlich agiert, weiß man – auch in der Wissenschaft. Speziell auf Menschen mit Behinderungen bezogen gibt es allerdings bisher sehr wenige Untersuchungen der AfD-Politik. Im Hinblick auf die immer stärker werdende Präsenz der AfD in der politischen und auch gesellschaftlichen Landschaft wollte ich ihre behindertenpolitischen Positionierungen auf Basis aktueller Programme vor allem für uns Betroffene einordnen und über ihre Strategie aufklären. Hinschauen ist gerade wichtiger denn je.

Max Prigge: Wie sehr hat sich seit den Anfängen der Partei die Politik und der Sprachgebrauch im Hinblick auf Menschen mit Behinderung bis heute verändert?

Mandy Müller: Die Anfeindungen gegenüber Menschen mit Behinderungen sind wesentlich subtiler geworden. Nachdem 2018 eine kleine Anfrage der AfD zum Thema „Behinderung und Migration“, in der Behinderung ganz offen als zu vermeidende Last dargestellt und weiterhin als Argument für Anfeindungen gegenüber Migranten verwendet wurde, für einen großen gesellschaftlichen Aufschrei sorgte, trat die AfD etwas auf die Bremse. Zwar gab es seither durchaus weitere offene Anfeindungen wie zum Beispiel von Björn Höcke oder Maximilian Krah. Generell inszeniert sich die AfD aber gern als Beschützerin der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Doch was sie fordert, beispielsweise im Wahlprogramm zur letzten Bundestagswahl, ist Separierung und Exklusion in allen Lebensbereichen – getarnt unter dem Deckmantel des Beschützertums.

Außerdem vertritt die AfD von Beginn an ein veraltetes und defizitorientiertes Modell von Behinderung und missachtet nicht nur die durch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) festgeschriebenen Menschenrechte, sondern negiert diese stellenweise sogar. So spricht sie beispielsweise im aktuellen Grundsatzprogramm davon, dass im Bereich der schulischen Inklusion die Forderungen der UN-BRK bereits erfüllt seien und negiert so das Recht auf Teilhabe im Bildungsbereich.

Max Prigge: Die AfD hat bezugnehmend auf den offenen Brief der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) an die Gesundheitsministerin vom 30. Juli 2025 am 28. August 2025 eine kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt, wo sie die von der ISL angesprochenen Missstände aufgreift. Wie beurteilen Sie diese kleine Anfrage im Hinblick auf Ihre Forschungen im Rahmen Ihrer Bachelorarbeit?

Mandy Müller: Die Anfrage zeigt genau diese Selbstinszenierung, von der ich vorhin sprach. Sie klingt auf den ersten Blick sehr sozial, ist aber in erster Linie als Instrument zu betrachten, der Regierung mangelnde Sozialpolitik für das „eigene Volk“ zu unterstellen, um ihre Hetzkampagne besser zu begründen. Weiterhin sieht man hier sehr anschaulich, dass die Gelegenheit genutzt wird, um einmal wieder aktuelle quantitative Daten über Menschen mit Behinderungen zu sammeln, was an sich schon für ein sehr defizitorientiertes Modell von Behinderung spricht. Auch hier schwingt vor allem der Tenor von Menschen mit Behinderung als Kostenfaktor mit, wie es bei den behindertenpolitischen Positionierungen der AfD häufig der Fall ist.

Ironischerweise beruft sich die AfD in ihrer Anfrage auf einen offenen Brief der ISL, obwohl die AfD selbst in keiner Weise jemals Forderungen vertrat, die die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen fördern würden – im Gegenteil. Die Stärkung der häuslichen Pflege ist der AfD ein großes Anliegen, auch im aktuellen Wahlprogramm ist diese Forderung festgeschrieben. Dies hat für die AfD zwei Vorteile: Erstens die Besetzung eines sozialpolitischen Themas, was durchaus relevant ist zur Wählergenerierung. Und zweitens würde mit der Stärkung der Pflege durch Angehörige, ohne dabei gleichzeitig auch Teilhabemaßnahmen wie zum Beispiel die persönliche Assistenz zu stärken, einen Rückzug von Menschen mit Behinderungen ins Private bewirken. Sie wären in der Gesellschaft weniger präsent, was dem diversitätsablehnenden Gesellschaftsbild der AfD natürlich zugunsten käme.

Zusammengefasst: Mit dieser kleinen Anfrage und der Instrumentalisierung der absolut berechtigten geäußerten Kritik der ISL schlägt die AfD gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe in Bezug auf ihre politische Strategie.

Max Prigge: Ist zu erwarten, dass die AfD die Behindertenpolitik immer mehr besetzen wird?

Mandy Müller: Das Thema Behindertenpolitik ist bei der AfD kein besonders relevantes. Dennoch wird sie, gerade in den Bereichen, in denen sie sowieso schon Forderungen stellt – wie schulische Exklusion, Stärkung des Systems der Werkstätten für behinderte Menschen und Pflege durch Angehörige –, auch weiterhin Stellung beziehen. Vor allem, wenn dies eine Möglichkeit darstellt, die aktuelle Regierung in punkto Sozialpolitik an den Pranger zu stellen und sich selbst als Beschützerin der (deutschen) Randgruppen darzustellen.

Max Prigge: Was raten Sie Betroffenen, wenn sie auf die Behindertenpolitik der AfD angesprochen werden? Vor allem auch im Hinblick darauf, dass ihr aktuelles Wahlprogramm erst beim zweiten Blick für Menschen mit Behinderung als negativ ersichtlich wird.

Mandy Müller: Vor allem ist das Wahlprogramm ganz stark im Kontext dessen zu betrachten, was die AfD in Bezug auf Behindertenpolitik NICHT fordert. Wörter wie Barrierefreiheit oder -abbau, Teilhabe oder Selbstbestimmung kommen in diesem Kontext nicht vor. Und das zu benennen, ist meine erste Empfehlung. Die zweite ist, zu erklären, was die Forderungen der AfD tatsächlich bedeuten, nämlich: wenig bis gar keine schulische Inklusion, keine Teilhabe am Arbeitsleben, zumindest nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt, und Rückzug ins Private – kurz: Sonderwelten, Separierung und Exklusion.

Außerdem würde ich stets auf die UN-Behindertenrechtskonvention und die darin festgeschriebenen Menschenrechte für Menschen mit Behinderung verweisen, die von der AfD konsequent ignoriert werden. Und zuletzt würde ich auf die generelle Tatsache verweisen, dass die Idealvorstellung der AfD einfach gesagt ein homogenes deutsches Volk ist. Da haben Menschen, die in irgendeiner Weise als „anders“ gesehen werden könnten, keinen Platz.

Max Prigge: Was raten Sie Verbänden wie Selbstvertretungsorganisationen oder anderen Behindertenverbänden, wie sie mit der AfD umgehen sollten?

Mandy Müller: Ich rate zu mehr Aufklärung in den eigenen Reihen über die Strategie der AfD, auf die man leicht hereinfallen kann. Und ich wünsche mir mehr stärkende, empowernde Maßnahmen gegen rechts. Veranstaltungen wie „Gegen rechts argumentieren lernen“ oder „Selbstbehauptung trotz Rechtsruck“ oder etwas in der Art würde ich sehr begrüßen. Wir als Betroffene sollten dieses Thema viel mehr auf dem Schirm haben und in unsere Arbeit mit aufnehmen. Die Initiative „Krüppel gegen Rechts“ ist hier ein toller Anfang!

Max Prigge: Vielen Dank für das Interview.

Link zur Vorstellung der Bachelorarbeit von Mandy Müller von H.-Günter Heiden

Link zum offenen Brief der ISL

Link zur Kleinen Anfrage der AfD im Bundestag